Zanshin — der ausgestreckte Geist

Åke Bengtsson, Stockholm. Foto: Magnus Hartman.
Åke Bengtsson, Stockholm. Foto: Magnus Hartman.


Wenn man in ki nagare wie ein Wirbelwind zwischen den Angreifern umherfährt, passiert es leicht, dass Umsicht und Fürsorge auf der Strecke bleiben. Die Angreifer werden weit umher und gegeneinander geworfen, Blessuren und Bitterkeit sind die Folge. Das ist nicht gut. Der wohlmeinende Aikidoka will seine Angreifer vor unnötigem Schaden schützen, er gibt sich damit zufrieden, ihnen einen besseren Weg zu zeigen als den Angriff, den sie sich selbst gedacht haben. Keiner soll zu Schaden kommen, alle sollen statt dessen eine Lehre ziehen und den Kampf als weisere, friedvollere Menschen verlassen. Deshalb hört die Aikidotechnik nicht im und mit dem Wurf selber auf, sondern wird durch die ganze Bahn des Fallenden verlängert und dauert bei ihm an, bis er sich entscheidet, seine unfreundliche Gesinnung aufzugeben und wegzugehen. Die Aufmerksamkeit und der Kifluss des Aikidokas umgeben und führen den Angreifer unaufhörlich während des ganzen Wurfs, so dass er fühlt, welche Bahn für seinen Fall die schonendste ist, und erkennt, welche Gesetze in der Sphäre des Aikidokas, in dessen Universum, gelten.

       Der Wurf im Judo geschieht im selben freundlichen Geist: der Werfende hält den einen Arm des Fallenden so, dass dieser sicher auf der Seite landen kann und sein Kopf nicht auf dem Boden aufschlägt. Im Aikido hält man den Fallenden selten fest, aber will mit der Richtung seiner Bewegung und seinem Ki den besten Weg für den Fall weisen. Man will sozusagen nicht nur die Beine unter dem Angreifer wegziehen, sondern auch ein Kissen dahinlegen, wo er mit seinem Hinterteil aufkommt. Wenn sie richtig ausgeführt werden, ist es deshalb nicht so besonders unbehaglich, von den Würfen des Aikido erwischt zu werden, man fällt weich, und in den Festhaltetechniken wird man sanft umfangen.

       Das kommt durch zanshin zustande, den ausgestreckten Geist, ein Begriff, der vor allem in Karatedo betont wird, der aber auch im Aikidotraining Bedeutung hat. Das Wort besteht aus zwei kanji, teils bewahren und teils Herz oder Sinn, also, ein bewahrter Sinn, eine Konzentration, die nicht nachlässt. Das Herz / der Sinn ist auf japanisch shin oder kokoro und wird in ungeheuer vielen Zusammenhängen gebraucht — immer in einer Bedeutung, die sich von der westlichen darin unterscheidet, dass sie nichts mit dem Gefühlsleben zu tun hat, sondern mit Willenskraft, Sinnesstimmung, Geist. Mit zanshin meint man, dass man den Kontakt mit dem Partner nicht verliert, wenn man den Wurf ausführt. Man verbleibt mit seiner Aufmerksamkeit beim Partner, selbst wenn kein Körperkontakt mehr besteht — ungefährt so, wie der Speerwerfer mit dem Blick den Flug des Speers verfolgt, bis dieser auf dem Boden auftrifft. Darin liegt natürlich ein kriegerischer Aspekt. Der Verteidiger bewacht und kontrolliert den Angreifer bis zu dem Augenblick, da von diesem definitiv keine Bedrohung mehr ausgeht. Mit krafvollem zanshin kann man den Angreifer sogar davon abschrecken, seinen Angriff zu erneuern.


Kazuo Igarashi. Foto: Magnus Hartman.
Kazuo Igarashi. Foto: Magnus Hartman.


       Ebenfalls mit zanshin kontrolliert man den Partner in einem Festhaltegriff. Zanshin ist die Kraft der Aufmerksamkeit und die Entschlossenheit, sein Zentrum zu zeigen und daran festzuhalten. Man fährt fort, den Partner mit seinem Ki zu umschwärmen und zu durchdringen, so dass es keine gangbaren Wege gibt als die, die man selbst abgesteckt hat. Bei einem Festhaltegriff wird der Partner also unbeweglich, nach einem Wurf ist er wie betäubt und hat es äußerst schwer, sich zu erheben — so als würde man über ihm stehen und ihn zu Boden drücken.

       Die freundlichere Seite von Zanshin ist also auch praktisch. Dadurch dass man seine Aufmerksamkeit über den Moment der Aikidotechniken hinaus verlängert, ist es schwerer, ihnen Widerstand zu leisten, und sie zeigen keine Blöße. Dadurch dass man den Fall und die Landung des Partners mit dem Geist steuert, kann dieser seine Bahn nicht ändern, und dadurch dass man zanshins verlängerten Geist in Festhaltegriffen anwendet, werden diese solide, ohne dem Partner Schmerzen zufügen zu müssen.

       Man kann sagen, dass zanshin der klare entschlossene Geist ist, der den Partner erreichen und durchdringen soll — sowohl vor dem Angriff, so dass dieser kommt, wann und wie der Aikidoka wünscht, als auch während der Technik und danach. Zanshin ist das Verhältnis des Aikidoka zum Partner, und das soll sein wie das des Herrschers zum Untergebenen — aber eines milden Herrschers mit Fürsorglichkeit für seinen Untergebenen. Ein hochstehendes zanshin ist keinesfalls bloß zum Schutz des Verteidigers da, auch der Angreifer wird davon in Obhut genommen und geschützt. Wenn das zanshin eines Aikidoka zu reinem Wohlwollen geworden ist, glaube ich nicht, dass es länger möglich ist, ihn anzugreifen.


Nächste



Aikido — die friedliche Kampfkunst.

Aikido — die friedliche Kampfkunst

Stefan Stenudds Einführung in die Grundprinzipien von Aikido gibt es jetzt auch als Printausgabe, mit überarbeitetem Text und zahlreichen neuen Fotos. Hier geht's zum Buch auf Amazon.


AIKIDO die friedliche Kampfkunst

VORWORT
Vorwort zur zweiten Auflage


DIE PRINZIPIEN DES AIKIDO
Die unmögliche Kampfkunst
Kein Gegner, kein Kampf
Morihei Ueshibas Weg
Wasser, Luft und Vakuum
So wie die Jungen
Weiblicher Vorteil
Von sich werfen
Können oder lernen
Hier und jetzt
Gemeinsame Fahrt
Die Sache mit der Selbstverteidigung
Wohlbehagen


DIE GRUNDLAGEN DES AIKIDO
Do — der Weg
Ki — Lebensenergie
Ai — Harmonie
Dreieck, Kreis und Quadrat
Tanden — das Zentrum des Körpers
Aiki — Rhythmus und Richtung
Kiai — Kraft sammeln
Kamae — die perfekte Stellung
Kokyu — Bauchatmung
Ma-ai — der sichere Abstand
Irimi, tenkan — nach innen, nach außen
Omote, ura — Vorderseite, Rückseite
Gotai — statisches Training
Jutai — weiches Training
Ki nagare — fließendes Training
Zanshin — der ausgestreckte Geist
Uke — der geführt wird
Keiko — trainieren, trainieren, trainieren
Takemusu — grenzenlose Improvisation
Nen — eins mit dem Augenblick
Kototama — die Seele der Wörter


AIKIDO — die friedliche Kampfkunst
Stefan Stenudd

Übersetzung: Sabine Neumann
© Stefan Stenudd 2006. Arriba Verlag.

Das ganze Buch als PDF (4MB)
Das ganze Buch als eBook (260KB)
Dank an Norbert Lender für das eBook.


Aikido Menu

Aikido Menu


AIKIDO PRACTICE

Introduction
Aikido Techniques — all the basic moves
Attacks in Aikido
Ikkyo Complete
Kotegaeshi
Nikyo
Tenchinage
Sankyo
Kokyunage
Yonkyo
Koshinage
Shihonage
Kokyuho
Iriminage
Suwari kokyuho
Tantodori — knife defense
Aikiken — aikido sword techniques
Jo 31 Kata in four directions
Aikibatto sword and staff exercises
Aiki — joining energies
Ki exercises
Aikido Video Clips
Aikido Photos
My aikido dojo in Malmö, Sweden
My aikido seminars


AIKIDO THEORY

My Aikido Bio
Aikido Glossary
Tanden, the Center
Aikido Inks
Aikido as Self-Defense
Running a Dojo
Aikido is True
Osensei and Einstein
AikiWeb Columns
Aikido Books Reviewed
Die deutsche Version meines Aikido-Buches online
Aikido på svenska


About Cookies


My Other Websites


CREATION MYTHS
Myths in general and myths of creation in particular.

TAOISM
The wisdom of Taoism and the Tao Te Ching, its ancient source.

LIFE ENERGY
An encyclopedia of life energy concepts around the world.

QI ENERGY EXERCISES
Qi (also spelled chi or ki) explained, with exercises to increase it.

I CHING
The ancient Chinese system of divination and free online reading.

TAROT
Tarot card meanings in divination and a free online spread.

ASTROLOGY
The complete horoscope chart and how to read it.

MY AMAZON PAGE

MY YOUTUBE AIKIDO

MY YOUTUBE ART

MY FACEBOOK

MY INSTAGRAM

MY TWITTER

STENUDD PÅ SVENSKA



Stefan Stenudd

Stefan Stenudd


About me
I'm a Swedish author of fiction and non-fiction books in both English and Swedish. I'm also an artist, a historian of ideas, and a 7 dan Aikikai Shihan aikido instructor. Click the header to read my full bio.