Do — der WegDas Schriftzeichen für do, Weg, Kalligraphie des Autors.
Aber das ist ja auch das reinste Chinesisch, wenn man so sagen darf. Man muss eine Weile bei jedem Wort verweilen. Wir beschließen wieder zurückzugehen und beginnen mit do, Weg. Das Zeichen für do ist eine Kombination von zwei Bildern - einem Kopf und dem Zeichen für vorwärts gehen — also einfach ausgedrückt der Vorwärtsmarsch des Kopfes. Mit westlichen Begriffen: mentale Entwicklung. Hier ist also viel mehr gemeint als nur eine abgemessene Strecke zwischen zwei Punkten. Es handelt sich nicht um einen x-beliebigen Weg, wenn auch das Zeichen in so profanen Zusammenhängen wie eben für die Kennzeichnung ganz gewöhnlicher Straßen und Wege benutzt werden kann. Es kann bereichern, wenn wir das Schriftzeichen näher ansehen — ein so genanntes kanji, womit die Japaner die komplizierte Bildschrift bezeichnen, die ihren Ursprung in China hat. Das Kanjizeichen für do besteht wie gesagt aus zwei Teilen, wobei der Teil, der einen Kopf symbolisiert, seinerseits aus dem Zeichen für ein Auge und dem, was eine Augenbraue darstellen soll, der Umgebung des Auges also, besteht. Dass das Auge damit als das wesentlichste Organ des Kopfes gilt, ist nicht ungewöhnlich für das östliche Denken, man findet es auch im Westen zum Beispiel in der Aussage der Perzeptionspsychologie, dass wir mehr auf den Gesichtssinn vertrauen als auf jede andere Sinneswahrnehmung, dass der Seheindruck klar unsere Erfassung der Umwelt dominiert. Das Zeichen für vorwärts gehen, oder sich vorwärts bewegen, besteht aus zwei Teilen — einem Fuß und dem, was nach Ansicht des großen Sinologen Bernhard Karlgren in einer älteren Form das Zeichen für Mensch war, also der Mensch, der sein Gewicht auf einem Fuß hat, ein elegantes Symbol für den Schritt, der dadurch zustande kommt, dass man seinen Schwerpunkt auf den einen Fuß verlagert, um den anderen vorwärts bewegen zu können. Das ist auch deshalb interessant, weil das die Aufmerksamkeit auf denjenigen Fuß legt, der nach landläufiger Meinung die geringere Bedeutung hat — für uns wäre es wohl natürlicher, den Fuß hervorzuheben, der hochgehoben und nach vorne gestreckt wird als den, auf den der Körper sich in dem Moment stützt. Man soll also an die Bedeutung erinnert werden, die darin liegt, dass man standfest im Fuß ist, wenn man sich vorwärts bewegt, wenn man nach vorne eilt. Zusammengenommen hat das Zeichen eine Menge zu sagen — der Mensch kann mit seinem Denken vorwärtskommen, wenn er die Augen anwendet und in seinem Vorwärtsgehen Festigkeit hat. Es handelt sich also auch um Bedächtigkeit, um Vorsicht - das Auge, das wahrnimmt und der Fuß, der schwer auf dem Boden ruht. Das ist mit anderen Worten ein Weg, der sich genauso gut an einem einzigen Ort abspielen kann. Ich will das mit einem Hirschen vergleichen, der mitten im Sprung innehält, in alle Richtungen wittert, hellhörig, angespannt, um dann plötzlich in eine neue Richtung loszuspringen. Die Scheu und Schnelligkeit des Hirschen sind beträchtlich, und wenn er sich in Bewegung setzt, so tut er das mit einer gewaltigen Geschwindigkeit. Aber in dem einen Augenblick steht er wie festgefroren. Festgefroren aber trotdem voll von Bewegung, ungefähr wie wenn ein Film mitten in der Rolle angehalten wird. So steht auch der Mensch, von Zeit zu Zeit aufgehalten in seinem Laufmarsch durchs Leben, verwundert darüber, welches die beste Richtung ist. Wir brauchen vielleicht kein deutlich ausgewiesenes Ziel, aber wir müssen eine Richtung haben, um uns bewegen zu können und um durch den Lauf des Lebens überhaupt irgendwohin zu gelangen. Der Weg, den das Zeichen beschreibt, ist vor allem der Weg der geistigen Reise des Menschen — hin zum Vollkommenen, zur Erleuchtung oder was für ein sublimes Ziel wir uns vorstellen können.
Doshu, Jan Nevelius, Mouliko Halén, Stockholm 2001. Foto: Magnus Hartmann.
Im Tao te ching ist der Weg etwas viel Größeres als bloß der Kurs des Menschen durch das Leben. Er ist selbst die Ordnung und steuernde Kraft des Universums. Alles was existiert, "die zehntausend Dinge", folgt natürlich diesem Weg, wie die Elektroden um den Atomkern kreisen oder wie das Wasser im Flussbett fließt. Der Weg ist die große Ordnung der Natur, und es gab ihn schon, bevor das Universum erschaffen wurde. Lao Tse zufolge hat der Mensch die freie Wahl: entweder er beugt sich dieser Ordnung des Lebens, und das Schicksal wird ihm gnädig sein, oder er trotzt dieser Ordnung und leidet damit viele unvermeidliche Qualen. Wer in Einheit mit dem Weg lebt, hat Tugend. Der Weg des Taoismus ist so großartig, dass er ein so gut wie unbeschreibliches Mysterium wird. Er steht über und hinter allem — nicht einmal wie ein höchster Gott, sondern als das Prinzip dem auch die Götter folgen müssen. Der erste Vers des Tao te ching lautet:
Nun, der Weg des Aikido ist nicht so großartig und kryptisch wie der des Taoismus. Obwohl Morihei Ueshiba kein Zenbuddhist war, ist es angemessen, sich im Fall von Aikido dem Begriff des Wegs zu nähern, wie er im Zen beschrieben wird. Die anderen japanischen Kampfkünste verwenden die selbe Endung — judo, kendo, iaido, karatedo und so weiter. Der übergreifende Name für die japanischen Kampfkünste, budo, tut das ebenfalls. In der Perspektive des Zen ist der Weg eine Strecke auf der man vorwärtskommt — nur scheinbar um ein Ziel zu erreichen. Sicher gibt es eine Art Ziel im Zen, das heißt satori und bedeutet in etwa Erleuchtung, aber es gibt nicht nur ein satori zu erreichen, sondern mehrere, und es gibt auch keine vorhersehbare Methode, um dahin zu gelangen. Die Person, die satori erreicht, tut das immer in einer plötzlichen Überraschung und muss dann einzig und allein wieder mit allem von vorne anfangen. Man kommt zu seiner Erleuchtung, seinem Schimmer völliger Klarheit, einem Moment, in dem kein Mysterium unfassbar, kein Umstand im Dasein kompliziert ist. Dieser Augenblick ist sicherlich sehr befreiend, heilend, und von der Kraft die man da gewinnt, der innere Ruhe die man findet, macht man Gebrauch, indem man sich dem Leben noch ehrlicher, noch mehr von Grund auf widmet. Ja, man beginnt von neuem und macht alles noch beschwerlicher für sich selbst. Und in der Zukunft können neue Satoris kommen. Auch im Aikido ist so etwas möglich. Um es als Ziel zu nehmen, ist Satori jedoch viel zu launisch und viel zu plötzlich als auch vorübergehend. Nach so etwas kann man nicht streben — es ist auch so, dass der, welcher der Erfahrung von Klarheit eines Satoris nachjagt, es unmöglich vernehmen kann, denn durch Anstrengung blockiert man sich.
Jan Hermansson. Foto: Ulf Lundquist.
Der Weg des Aikido kann unleugbar eintönig klingen: er besteht einfach darin zu trainieren, keiko, und dann weiter zu trainieren, ohne sich irgendwelche Vorstellungen davon zu machen, was man daraus gewinnt. Auf diese Weise wird die eigene Ambition oder Phantasie nie eine Grenze für das, was man erreichen kann. Und doch hat der Weg eine klare Richtung. Er führt unfehlbar auf das Wahre und Natürliche zu — wenn man voraussetzungslos auf ihm wandert. In der Geschichte sowohl des Zen als auch der Kampfkünste gibt es eine Menge Anekdoten über die Bedingung des Wegs und sie sagen alle, dass man sich nur auf ihm halten kann und ihm in die richtige Richtung folgen kann, wenn man selbst ohne Bedingung ist. Die Vernunft ist ein schlechter Wegführer, Gedanken und Analysen lassen den Wanderer nur im Kreis gehen. Aikido soll intuitiv erfasst werden, die Bewegungen sollen als Reflexe im verlängerten Rückenmark entstehen. Am Anfang des Wegs ahmt man seinen Lehrer nach, man kopiert sorgfältig das Bewegungsschema der Techniken. Aber sobald man sie zum Funktionieren gebracht hat, sobald sie natürlich fließen, soll man sie vergessen. Man soll aufhören nachzuahmen, um anstelle die Bewegungen aus sich selbst heraus zu schaffen. Da wird man mit jeder Ausführung einen weicheren, natürlicheren, wahreren Weg in ihnen finden. Sie werden sozusagen automatisch zur Vollendung geschliffen. Den Weg des Aikido geht man also mit einem leeren Kopf, und ohne einen speziellen Bestimmungsort in Sicht zu haben. Planlos, wie ein Schlafwandler. Gleichgültig darüber, wie die Reise vorwärts geht, wie auf einem Marsch, der auf der Stelle tritt.
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Stefan Stenudd
About me
I'm a Swedish author of fiction and non-fiction books in both English and Swedish. I'm also an artist, a historian of ideas, and a 7 dan Aikikai Shihan aikido instructor. Click the header to read my full bio.