Die unmögliche KampfkunstJan Hermansson, Stockholm. Foto: Ulf Lundquist.
Jede der japanischen Kampfkünste hat sicherlich ihre technischen und theoretischen Besonderheiten, aber selbst wenn man das berücksichtigt, so nimmt Aikido eine Sonderstellung ein. Die meisten der Eigenheiten von Aikido kann man mit Negationen beschreiben: in Aikido gibt es keinen Wettkampf, keine Angriffstechniken, keinen Gegner, man gebraucht keine Körperkraft, und es ist nicht möglich, den Weg abzukürzen. Selbst die grundlegendsten Bewegungen von Aikido sind schwer zu lernen, und es gibt wohl wenige, die von sich sagen, dass sie — selbst nach mehreren Jahrzehnten Training — Aikido auch nur teilweise beherrschen. Man könnte also Aikido fast als völlig unmöglich bezeichnen. Der Weg ist lang bis zu den kurzen Augenblicken, da die eigenen Bewegungen sich nicht mehr plump anfühlen, und noch länger bis zu den seltenen Momenten, da man auch Harmonie mit den Bewegungen des Trainingspartners erfährt. Deshalb kann man leicht fragen, warum es überhaupt Menschen gibt, die sich darin versuchen. Nun, die bei Aikido bleiben — und das sind nicht überwältigend viele — scheinen gerade von den Schwierigkeiten angezogen zu sein. Die moderne Welt bietet viel zu oft leicht errungene Beute, mit blendendem Äußeren und schalem Inhalt. Manche möchten deshalb auf etwas setzen, was auf der Oberfläche nicht glänzt oder sogar fast abweisend zu sein scheint, dessen Inneres aber womöglich etwas völlig anderes birgt. Es gibt zwar im Aikido eine Vielzahl von Techniken und Trainingsformen, doch sein sichtbarer Teil ist nur die Spitze des Eisbergs. Es ist sein Inneres, das eigentlich umfangreich ist, und je weiter man in der eigenen Entwicklung kommt, desto anspruchsvoller wird auch das Training. Der Anfänger ahnt die Komplexität von Aikido vielleicht, kann sie aber unmöglich in ihrer Gänze erkennen. Sie zeigt sich nur schrittweise, so wie eine Landschaft sich desto mehr dem Blick öffnet, je höher man steigt.
Stefan Stenudd, Berlin Lehrgang, 2002. Foto: Larry Kwolek.
Höhere Qualitäten können wir nur ahnen, und Ahnung ist der einzige brauchbare Wegweiser für den Anfänger. Wir gehen dahin, wohin unsere Ahnung, unsere Intuition uns zieht, und wir bleiben, bis wir genau wissen, was uns angezogen hat. Dann können wir, wenn wir wollen, weiter gehen. Es dauert etwa drei Jahre um zu diesem Punkt zu kommen. Ein altes japanisches Sprichwort lautet: Selbst auf einem Stein - drei Jahre. Das bedeutet, dass man selbst etwas für etwas so Einfaches wie für das Sitzen auf einem Stein drei Jahre braucht, um es zu lernen. Wenn man jeder Aufgabe im Leben mit dieser Einsicht begegnet, wenn man bereit ist, sich jeder Aufgabe auf diese Weise mit Hingabe zu widmen, so kann man sich stattliche Fähigkeiten aneignen. Das Sprichwort sagt im Grunde aber auch, dass wir nach den drei Jahren wirklich auf dem Stein sitzen können. Viele Lehrer, die Schüler mit einem Vertrag auf Lebenszeit an sich binden wollen, unterschlagen gewöhnlich diese Seite der Medaille. Seinen Schüler in fortwährender Abhängigkeit zu halten, kann für einen Lehrer von Vorteil sein, der keine hohe Meinung von seinem eigenen Können hat. Die Folge ist freilich, dass der Schüler, der sich in solchem Garn fangen lässt, nicht einmal in dreißig Jahren viel lernen wird. Man kann freilich nicht behaupten, dass man alles innerhalb von drei Jahren beherrschen kann. Aber am Ende dieser Zeit muss man entscheiden können, ob einem die Sache zusagt oder nicht. Man ist seines Lehrers dann noch nicht ebenbürtig, man ist auch noch nicht ein Meister seiner Kunst, aber man kann sich bereits deutlich vorstellen, wie weit der Lehrer und die Kunst einen auf dem Weg des Lebens führen können. Von denen, die es ein Mal mit Aikido versuchen, kommt eine Minderheit auch ein zweites Mal, und es ist eine verschwindende Anzahl, die nach dem ersten Halbjahr weitermacht. Diese bleiben in der Regel ihr Leben lang bei Aikido — ohne jemals das Gefühl zu haben, dass sie die Kunst beherrschen, und ohne jemals ihres Inhalts überdrüssig zu werden. Sie sind eine eigentümliche Schar. Jedes Freizeitinteresse, jedes Hobby, jede Sportart versammelt wohl Gleichgesinnte, und vielleicht ist das auch eine ihrer wichtigsten Funktionen, ungeachtet ihrer jeweiligen Besonderheiten und Ausprägungen. Wir leben in einer Welt, in der wir ständig von bedeutend mehr Menschen umgeben sind als wir wirklich kennenlernen können. In der Anthropologie spricht man vom Menschen als von einem Herdentier. Im weitaus längeren Abschnitt unserer Vergangenheit haben wir in kleinen Gesellschaften von ca. 80 Individuen gelebt. Darauf sind wir eingestellt. Die moderne Welt zwingt uns statt dessen in riesigen Horden zu leben, so als wären wir Schafe. Ein beachtlicher Teil der geistigen Schwierigkeiten der Bewohner moderner Gesellschaften liegt darin begründet; deshalb streben wir unbewusst danach, uns mit einer Gruppe von Menschen zu umgeben, die der kleinen Herde entspricht, und andere Gesichter von uns fern zu halten. Wir brauchen also Methoden, um eine geeignete Gruppe zu finden, am besten natürlich eine Gruppe von Gleichgesinnten — oder von verwandten Seelen, wenn das möglich ist. Je spezieller ein Freizeitsinteresse ist, desto klarer versammelt es eine homogene Gruppe. Worin die Stimmigkeit einer Gruppe genau besteht, kann man schwerer auseinandersetzen. Aikidomenschen beschreiben sich in der Regel als Träumer und Grübler. Nie wählen sie Worte wie Athlet oder Kämpfer. Obwohl sie eine Kampfkunst trainieren, betrachten sie sich meistens als Pazifisten, und Gewalt hat absolut keinen Platz in ihrem Herzen. Das Ideal im Aikido besteht auch nicht darin, einen Streit zu gewinnen, sondern zu verhindern, dass ein Streit aufkommt — ja, die Gewalt selbst zunichte zu machen. Aikido ist definitiv mehr Kunst als Sport, und als Kampfkunst viel eher Frieden als Kampf.
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Stefan Stenudd
About me
I'm a Swedish author of fiction and non-fiction books in both English and Swedish. I'm also an artist, a historian of ideas, and a 7 dan Aikikai Shihan aikido instructor. Click the header to read my full bio.