Können oder lernenToshikazu Ichimura, iaido, Järfälla 1973. Foto: Stefan Stenudd.
Kuhn spricht von Paradigmen und Anomalien. Jede wissenschaftliche Periode bekennt sich zu einem gewissen Paradigma, eine Art Grundgesetz dafür, wie Dinge innerhalb dieser Wissenschaft funktionieren. Das Paradigma beschreibt also die Naturgesetze, die jederzeit gelten müssen. Aber die Wirklichkeit weist Abweichungen von diesen Paradigmen auf. Sie werden Anomalien genannt und sind Phänomene, die sich nicht so verhalten wie sie sich dem geltenden Naturgesetz gemäß verhalten sollten. Anstatt dass man das Augenmerk auf diese Anomalien legt und das Paradigma erneut prüft, stößt man sie ganz einfach beiseite. Sie werden von den Wissenschaftlern vergessen und negiert. Schließlich werden die Anomalien so zahlreich, dass sie sich nicht länger verschweigen lassen. Da kommt es zu einer Revolution, das Paradigma wird auf den Müllhaufen geworfen und ein neues wird formuliert, das die Anomalien erklären kann. Schnell wird diese neue Ordnung befestigt und beginnt ihrerseits, die Anomalien zu überdecken, auf die sie unvermeidlich stößt. Dieser periodische Prozess ist wie das Bauen eines Hauses, das abgerissen und auf dem selben Grund neu gebaut wird, immer und immer wieder. Kuhn fand heraus, dass das Ganze mit großer Regelmäßigkeit zu geschehen scheint. Innerhalb der Chemie, wenn wir schon dabei sind, geschieht das in einem Abstand von ungefähr siebzig Jahren, so fand er heraus. Aber warum diese uneffektive Trägheit, dieses Widerstreben, in diesem Tempel der Sachlichkeit und der gesunden Vernunft? Warum werfen sich die Forscher nicht neugierig über jede Anomalie, sobald sie ihrer gewahr werden? Die Ursache ist natürlich sowohl einfacher als auch menschlicher als die Potentaten der Wissenschaft es jemals zugeben wollen. Sie widmen einen großen Teil ihres Lebens darauf, sich Paradigmen anzueignen und all deren Konsequenzen und Beispiele auszuforschen. Sie wollen nicht all das von sich werfen um von vorne anzufangen — und da außerdem mit keinerlei Vorsprung gegenüber den jungen Novizen, die ihre Schüler sein sollen. Deshalb halten sie an ihrem Paradigma fest und pfeifen darauf, wie weit dieses sie mit der Zeit von der Wirklichkeit wegführt. Sie schlagen Wurzeln im Vergangenen und versuchen, die Zukunft mit einem Bann zu belegen. Da sie an den Universtitäten und Forschungseinrichtungen herrschen, können sie auf diese Weise Veränderungen ein wenig verzögern, aufhalten jedoch können sie sie niemals. Ihr Kardinalfehler ist, dass sie niemals lernen wollen, sie wollen können. Das kann im Aikido genauso leicht passieren. Nun ist Aikido rund um die Welt nicht genauso homogen, nicht so kontrolliert wie die Naturwissenschaften, aber es ist trotzdem möglich, dass wir auch im Aikido Paradigmen, Anomalien und periodisch wiederkehrende Revolutionen erkennen können. Viele fallen in die lockende Falle dieses Könnens. Ich glaube eigentlich, dass diese Personen schon von Anfang an darin festsaßen. Ihre Teeschalen waren nicht voll, aber sie wollten sie so schnell wie möglich füllen und dann einen Deckel darauf legen. Sie können niemals überrascht werden, niemals etwas anderes erreichen als das, was sie sich schon vom Anfang an vorstellen konnten. Dann beeilen sie sich damit, laut und durchdringend ihr Wissen über allen auszuschütten, als wollten sie ihr Paradigma erneut verhärten und sich vor Anomalien schützen. Wer wirklich lernen will, macht es anders. Wenn ihm jemand etwas zeigt, vergleicht er es nicht zuerst mit seinen eigenen Einsichten um das Neue bei Nichtübereinstimmung zu verwerfen. Er versucht zu verstehen, auf welche Weise das, was ihm gezeigt wird, stimmen könnte. Der Grund liegt wohl in positiv gegenüber negativ. Wenn man mit etwas Fremdem konfrontiert wird, sollte man sich zuerst fragen, wie das stimmen könnte, wie das richtig sein könnte — und nicht sofort bei der ersten Diskrepanz aufstehen und rufen: "Das ist unmöglich!"
Brandbergen 1982.
Ein Beispiel ist, wenn man Aikidotechniken an völligen Anfängern ausführen soll. Die angenehmen Bewegungen werden oft angespannt, runde Formen werden kantig, und plötzlich funktioniert eine Technik an einem Anfänger überhaupt nicht, so leicht man sie auch an anderen ausgeführt hat. Das beruht meist darauf, dass der Anfänger falsch angreift — zum Beispiel passiv, wie jemand, der es nicht ernst meint, oder steif, wie jemand der weiß, dass er nichts riskiert. Trotzdem darf man die Schuld nicht nur dem Anfänger zuschieben und sich dann beeilen, zu anderen Techniken überzugehen, oder sich aus demselben Grund mit der plumpen, unharmonischen Ausführung der Technik zufriedengeben. Die Gelegenheit muss genutzt werden. Hat der Anfänger wirklich falsch angegriffen, und in diesem Fall: auf welche Weise falsch? Ist es möglich, ein harmonisches Aikido auf diesem Angriff auszuführen, obwohl er fehlerhaft ist, und in diesem Fall wie? Aikido hat die Eigenheit, dass es am besten bei den besten, geschicktesten und entschlossensten Angriffen funktioniert. Das bedeutet jedoch nicht, dass Aikido bei einem schlechteren Angreifer hilflos ist. Aikido muss auch den weniger guten Angriff hantieren können. Erst wenn man das gelöst oder einen Weg zur Lösung gefunden hat, kann man weitergehen und den Angriff korrigieren. Anders wird jeder Aikidoka schnell gefangen in Begrenzungen und Bedingungen seiner Kampfkunst, wie im Netz einer Spinne. Wer können will, beginnt immer damit, andere zu korrigieren, wer hingegen lernen will, korrigiert zuerst sich selbst und dann — wenn das gewünscht wird — seinen Partner. Die Welt ist voll von Sprichworten wie "je klüger man wird, desto weniger weiß man", "je mehr man lernt, desto mehr gibt es zu lernen" und so weiter. Obwohl an diesen Worten nichts falsch ist, so geschieht es leicht, dass sie nichts weiter als leere Worte bleiben. Gewiss lernt man Dinge, gewiss gibt es etwas, das man weiß. Und wenn man seine Sinne auch nur ein wenig beisammen hat, so müsste das mit den Jahren mehr und mehr werden. Nein, das eigentlich Kluge wäre, darauf zu vertrauen, dass man weiß was man weiß, und deshalb ständig gewillt und bereit zu sein, dieses Wissen in Frage zu stellen. Der Mensch hat eine große Menge Gehirnzellen und außerdem, tief in seinem Inneren, einen Radar, der unfehlbar die Wahrheit erkennt und das Erkennen signalisiert. Es liegt keine Gefahr darin, das Unbekannte aus vollem Herzen zu prüfen, sich für widerstreitende Erklärungen zu öffnen. Nur wenn man es immer so macht, weiß man, dass die eigenen Wahrheiten wirklich standhalten. Diejenigen, die an ihrem Können mit hartem Griff festhalten, bekommen verständlicherweise mit der Zeit Beschäftigungsprobleme. Da sie sich gegen Neues und gegen Veränderungen sperren, müssen sie die Zeit mit etwas Anderem füllen. Um den Gefahren der Qualität zu entgehen, wenden sie sich der Quantität zu. Sie steigern die Anzahl der Beispiele für ein und das selbe Paradigma. In sämtlichen Budoarten gibt es Katas, eine Trainingsform mit Bewegungen in einem vorherbestimmten Muster. Traditionell ist das eine gute Methode, um sich mit maximaler Konzentration und Sorgfalt in den Gründen der Kampfkunst zu üben. Man trainiert seine Kata bis zur Perfektion und findet gerade in der unaufhörlichen Wiederholung den Schlüssel zu einer anderen Art Inspiration, einer anderen Ebene des Bewusstseins in der Ausführung. Doch sicher können Katas auch eine reine Formsache werden. Es gibt eigentlich keinen besonders schwer wiegenden Grund dafür, mehr als eine Kata zu lernen, wenn diese nur für ihr Ziel gut komponiert ist. Je mehr Katas man kennenlernt und zu memorieren versucht, desto größer ist das Risiko, sich in ihrer Vielzahl zu verlieren. Man gewinnt Stolz daraus, sie alle zu beherrschen, und gleichzeitig sind es so viele, dass man keine davon zur Zufriedenheit trainieren kann. Katas in einer solchen Menge öffnen keine Tore. Sie werden nur zu einer gewaltigen Menge Techniken. Deshalb ist in jeder Budoart die Anzahl der Grundtechniken streng begrenzt — die Anzahl Variationen jedoch, die natürlich aus dem Augenblick geboren werden, ist riesig. Wenn die Grundtechniken zu zahlreich werden, bleibt die Aufmerksamkeit der Trainierenden am Technischen haften und ihr Budo wird nie lebendig. Im Aikido schreitet man dadurch fort, dass man sich vollständig auf das konzentriert, was man im Augenblick tut, um es dann von sich zu werfen, zu vergessen, und sich vollständig auf das Nächste zu konzentrieren. Es geht darum, im Jetzt zu sein. Gerade deshalb, weil man nichts in sich ansammelt, gibt es keine Grenze dafür, wieviel man lernen kann.
|
Ikkyo Complete |
Kotegaeshi |
Nikyo |
Tenchinage |
Sankyo |
Kokyunage |
Yonkyo |
Koshinage |
Shihonage |
Kokyuho |
Iriminage |
Suwari kokyuho |
Stefan Stenudd
About me
I'm a Swedish author of fiction and non-fiction books in both English and Swedish. I'm also an artist, a historian of ideas, and a 7 dan Aikikai Shihan aikido instructor. Click the header to read my full bio.